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Auch mich holt ab und an die Realität ein


Schau ich mir die Menschen in meiner Umgebung an, behaupte ich gerne von mir, ein sehr fortschrittlicher, neuen Medien aufgeschlossener Mensch zu sein. Betrachte ich die Reklameschilder der großen Provider oder Handyunternehmen, stehe ich aber wohl nur ganz kurz vor denen, die nicht mal einen Computer ihr eigen nennen.

Da wird von früh bis spät telefoniert (in der Werbung, sogar beim Stillen – woher kam das Wort nur?), auf der Party und in der Disco geht es gar nicht ohne (und ich dachte, man sollte sich dort mit netten Menschen unterhalten oder zumindest welche kennenlernen – warum telefoniere ich dann? Das erinnert mich an den Raucher, der an die frische Luft geht und sich erst mal eine Zigarette ansteckt) und ohne eingebauten MP3-Player und Foto geht schon gar nichts mehr. Natürlich müssen heute schon halbe Spielkonsolen eingebaut sein und das ‚privat office‘ soll ja auch noch mit – daher sind zumindest Infrarot und Bluetooth Pflicht – wer sich schon mit WLAN brüsten kann, will natürlich auch das noch.

Zuhause läuft statt dem Fernseher von früh bis spät der PC. Nein eigentlich kein PC mehr, denn erklärter Standart der Discountketten ist ja mittlerweile das Notebook. Also PC raus und Notebook ins Wohnzimmer.

Hübsch trappiert auf dem Sideboard bitte, damit man es auch gleich sieht. Bei jüngeren Leuten steht es auf einem extra niedrigen Tischchen neben dem Sofa und dem Sessel. Die Orthopäden Deutschlands können sich sicher sein, in einigen Jahren viele neue Kunden mit Rückenproblemen zu haben. Und weil ein Notebook, das in der Regel nur zum Surfen, als besseres Bilderalbum und für die Kids zum Spielen von Sesamstraße und Co. genutzt wird, viel weniger Platz verbraucht, als ein PC, kann der alte, extra vor zwei Jahren angeschaffte Wohnzimmerschrank in den Keller. Er war eh viel zu klobig, im Vergleich mit den anderen Möbeln zu tief, schließlich mußte ja ein 19 Zoll Bildschirm her. Die Designerwohnung der Werbung ist groß, hell, mit großen Fensterfronten, Balkon, dem Flachbildschirm-TV, Sofa und vielleicht noch einer LED-Designerleuchte ausgestattet. Kinder und Männer haben keinen Zutritt, würden so nur Unordnung und Staub das schöne Bild stören. (Die können ja zum Computerschrank in den Keller gestellt werden. – Am Notebook surfen, zumindest der Werbung nach, eh nur Frauen, auf dem Boden liegend, im Wohnzimmer)

Nun, meine Realität sieht da ganz anders aus. Wobei ich damit sehr zufrieden bin. Eigentlich. Wenn ich schon die Designermöbel nicht haben kann (oder besser: will)  und auch der Rest der Wohnung mitnichten der Werbewohnung entspricht, könnte ich doch wenigstens all die netten Sachen nutzen, die die da auch haben.

So, diese tollen Fotohandys oder Handyfotos, wo man sich von der Party die tollen Frauen direkt nach Hause auf den Bildschirm holt, oder wie die junge Frau den schnuckeligen Skilehrer gleich der Oma als Schwiegersohn zeigt. Nun, was aber nutzt mir das verfluchte Teil, wenn ich, da ich ja eh nur noch telefoniere und deswegen gar nicht außer Haus muß, was also nutzt es mir, wenn die Party heutzutage quasi virtuell, per Konferenz stattfindet. Jeder bleibt zuhause, futtert die Chips auf der Couch und quasselt über die Strippe. Mal den anderen auf ein Bier oder Wein zu besuchen, gehört nicht mehr zum täglichen Leben. Schon gar nicht ohne Termin. Und schon viel weniger, ohne vorher angerufen zu haben.

Ich kann mich an Zeiten erinnern, da bin ich zu meinem Spezi gefahren, habe geklingelt (er wußte nicht, daß ich kommen wollte!) – er öffnete und wir trafen uns. Einfach so. Ohne Grund. In Jeans und T-Shirt, ohne noch  vorher zu duschen. Kaum vorstellbar, aber so etwas habe ich wirklich gemacht (man bin ich toll!)

Als ich dies neulich meiner achtjährigen Tochter vorschlug (‚Besuch doch einfach mal deine Freundin und geh mit ihr auf den Spielplatz nebenan, es sind nur 500 Meter bis dahin‘) hat sie mich völlig entrüstet angeschaut. Als ich dann auch noch von ihr verlangte, einfach mal hinzugehen – ohne vorher zu telefonieren -  gab sie mir unmißverständlich zu verstehen, daß so etwas Unanständiges nicht mit ihr zu machen sei. Da müsse man erst mal eine Uhrzeit aushandeln, anrufen, ob die Freundin auch da ist und dann, aber auch nur dann, verläßt man das Haus.

Aber hallo!

Offenbar habe ich einiges im Leben falsch gemacht.

Ok, dann machen wir jetzt mit dem Spezi, einem werdenden Vater, einen ‚Termin‘ und dann gehe ich hin und trinke ein Bier mit ihm. Zumindest kann ich dann erwarten, daß das Bier auch kalt ist. Hatte er  ja genug Zeit zur Vorbereitung.

Nun mit dem neuen Handy noch ein Bildchen von uns gemacht und ...

Ne, nix und, bei den Preisen ist das eindeutig zu teuer, es als MMS zu schicken. Also irgendwie, via Bluetooth auf den PC, ach ne, wir nutzen ja jetzt Notebook und dann....

Enttäuschung. Die Qualität ist ja so mies, daß noch nicht mal der Versand via eMail lohnt.

Abgesehen davon, wem sollten wir es schicken? Die Aktion hat uns jetzt schon zwei Stunden und zwei Bier gekostet, nur damit sich dieses Notebook mit der Kamera versteht – und dann ist die Qualität nichts.

Schicken wir das Bild unseren Frauen, wissen die gleich, daß wir nicht mehr ganz nüchtern sind. Abgesehen davon, was soll meine Frau mit dem Bild?

Schicken wir es einem Kumpel, steht der in 10 Minuten ungefragt vor der Tür und wir haben eh nur noch zwei Bier für jeden. Also auch nicht.

Urlaubsbekannte!

Besser nicht, bislang hatten die einen guten Eindruck von mir. Einer Freundin? Auf keinem Fall. Wenn die dann mit einem Bild, daß ich ihr schickte, von ihrem Freund erwischt wird, kommen wir in Teufels Küche. Und viel schlimmer noch – was, wenn das Bild ohne meine Zustimmung an andere weitergeleitet wird? Allein der Gedanke an Millionen nicht autorisierte Bilder, die um die Weltkugel schwirren, bringen mich (nach dem vielen Bier) zum wanken.

Nein, wir drucken das Bild aus.

Mit Entsetzen betrachten wir das Ergebnis. Absolut unbrauchbar. Die Qualität reicht nicht mal für die Größe eines Paßfotos. Das neuere Handy mit den ach so tollen 1 Megapixeln hat zwar eine bessere Auflösung, aber das ist schon alles. Für ein gelungenes Bild braucht es wohl immer noch eine gute Kamera und einen (nüchternen) guten Fotografen.

Nun irgendwann wird jeder mal schwach, auch ich brauche mal wieder neueste Technik.

Nachdem ich über viele Jahre mit meinem Modem eine Vorreiterrolle in meinem Bekanntenkreis spielte, waren 56kb zum Surfen nicht mehr ausreichend. Lange Jahre hat es ausgereicht, um 10.000e eMails zu schreiben, Internetseiten mit Leben zu füllen und ich kann mich noch an die Zeiten mit dem 19,6er  und 14,4er Modem erinnern.

DSL muss jetzt her.

Und wenn, dann gleich richtig.

WLAN, damit das Notebook und der Rechner der Kids auch etwas davon hat.

Aufrüsten, gegen all die Nörgler und Zweifler, die mich vor Jahren auslachten über meine Internetmanie, und mir heute stolz ihre Familienwebseite mit den Bildchen der lieben Kleinen präsentieren.

Aufrüsten, um Radio endlich online zu hören (HÄÄÄH, schalt doch einfach das FUNK-Radio ein! Es kostet sogar noch weniger.)

Aufrüsten, um die verpasste ‚Heute‘-Sendung (ich war am Telefonieren) hinterher doch noch als Videostream zu sehen. (In einer Stunde kommt schon wieder Heute-Journal, warte doch einfach)

Aufrüsten, damit ich endlich wieder schneller, besser, weiter bin.

Warum eigentlich?

Ich weiß es nicht.

Da waren das Bier und die Streitgespräche mit den Kumpels gestern abend eigentlich viel besser. Später als sonst beim Surfen, war es auch nicht, nur der zweite Schnaps (ich vertrage das Zeug einfach nicht) führte zu ungeahnter Müdigkeit heute morgen. Zumindest das Problem habe ich nach dem Surfen nicht.

Aber es hat sich in den letzten Tagen dann doch noch ein ganz klarer Pluspunkt herauskristallisiert, warum ich unbedingt DSL, WLAN und ein Notebook brauchte.

Ich saß bei dem schönen Wetter draußen im Garten, hätte surfen können oder auch eMails schreiben, habe es aber gelassen und mich an den Fröschen und Vögeln erfreut, mich über vorbeifliegende Flugzeuge geärgert, mit dem Nachbarn über den Zaun die neuesten Geschichten ausgetauscht – aber ich hätte ins Internet gehen können.

Und wenn ich ehrlich bin – ich habe nichts verpasst. Im Gegenteil.

Jetzt muß ich nur noch meinen Kindern beibringen, daß man durchaus ungefragt jemanden besuchen darf – und es ist dann keine Beleidigung, wenn der andere dann sagt, er habe jetzt keine Zeit.

Aber es unglaublich viel schöner mit anderen Menschen direkt zu sprechen, mit eigenen Augen die Welt zu sehen und sich das Erlebte nur im Kopf zu behalten.

Das Leben ist kurz,
seht, fühlt, staunt, erfahrt
und nehmt alles in euch auf.
Mitnehmen geht nicht...

Jürgen Rode
p|s|i|o|n|w|e|l|t

 
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